Das weisse Licht

Nur ein paar Sekunden später komme ich wieder zu mir. Ich hänge wie ein verkrüppelter Hampelmann in einer Erlenstaude, und erkenne mit verschwommenem Blick, was um mich herum passiert. Ich höre deutlich, wie noch immer unter mir die Gesteinsbrocken unter Tosen den steilen Abhang hinunter poltern. Hätte mich die Staude nicht liebevoll aufgefangen und geborgen, wäre ich mit all dem Geröll ich weiss nicht wie weit den Berg hinuntergedonnert.

Von grossen Schmerzen im ganzen Oberkörper geplagt, ringe ich hechelnd nach Luft, während ich noch immer im Geäst des Strauches hänge. Die Schmerzen lassen nur ein sehr oberflächliches Atmen zu und das Gefühl, dass das Ende meines Lebens nun gekommen ist, breitet sich aus. Noch zwei weitere Male schiesst Blut aus meinem Kopf. Sofort rechne ich und komme zu dem Schluss, dass ich nach zehn, spätestens aber zwanzig solchen Spritzern wohl das Bewusstsein verlieren werde.

Durch die Gehirnerschütterung, von welcher ich ausgehen muss, verliere ich den Überblick. Ich bin überzeugt, dass ich auch am Hinterkopf eine klaffende Wunde habe. Während ich die äusseren Umstände wahrnehme, stellt sich bei mir schnell ein Gefühl der totalen Entspannung ein, und ich bin überzeugt, dass mein Leben nach wenigen Atemzügen zu Ende gehen wird. Mit für mich unverständlicher Gelassenheit, innerem Frieden und ohne ein Gefühl von Angst lasse ich zu, was geschieht und ahne, dass es nun so weit ist und meine Lebenskräfte entschwinden werden.

Alle meine Liebsten wohnen im Norden der Schweiz. Ich versuche instinktiv meinen Kopf in diese Richtung zu drehen, um mich von ihnen zu verabschieden. Wie in einem Film ziehen ihre Gesichter innerhalb einer einzigen Sekunde an mir vorbei, Gesichter all der Menschen, die in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben, angefangen mit meinen Eltern, meiner Schwester und wirklichen Freunden.

Sofort danach nehme ich in der linken, oberen Hälfte meines Gesichtsfeldes einen hellen Punkt wahr. Dieser Lichtfleck wird sehr schnell deutlicher, heller und intensiver und es entsteht ein Lichthof um das Zentrum. Innerhalb von Sekunden ist der grösste Teil meiner optischen Wahrnehmung mit diesem Licht erfüllt, und nur am rechten Rand erkenne ich noch das Grau der steinigen Umgebung.

Verwundert denke ich: Es gibt dieses berühmte weisse Licht tatsächlich!

Mit dem Erscheinen dieses Lichts wird meine Ahnung zur Gewissheit. Nicht, dass mich dieses weisse Licht anzieht und mich ihm folgen lässt. Es stellt sich einfach eine für diese Situation unbeschreibliche Ruhe und ein Gefühl des absoluten Friedens ein. Ich bin mir bewusst: Wenn ich nun meine Augen physisch zumache, schliesse ich sie für immer.

Wie ein kleines Kind mit aufgerissenen Augen voller Erwartung auf die Dinge die nun folgen, stelle ich mir grundsätzliche Fragen: Ist jetzt einfach alles vorbei? Was passiert jetzt und was kommt dann? Meine emotionale Anspannung ist gewaltig, denn ich will wirklich wissen, was jetzt an der Schwelle zum Tod passiert. Ich rechne damit, dass ich die Antworten auf meine Fragen schon sehr bald wissen werde.

Erwartungsvoll halte ich die Augen und alle meine Sinne offen, während ich hechelnd nach Luft ringe und Blut aus meinen Wunden läuft. Meine kindliche Neugier verhindert, dass ich dem natürlichen Bedürfnis nachgebe, unter den grossen Schmerzen einfach die Augen zu schliessen. Ich reisse sie mit der letzten Kraft auf und harre der Dinge, die da kommen.

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